Am Ende bleibt der Schmerz und die Frage Warum

     Dynamik einer Borderline Beziehung 

Ab 13.11.2013 lieferbar

 ISBN 978-3-88074-396-0
Klotz Verlag


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  LESEPROBE:

"Das Buch soll der Aufklärung dienen. Es wendet sich an alle Diejenigen, die sich mit der Borderline Persönlichkeitsstörung auseinandersetzen wollen.

Ziel dieses Buches ist es, die Dynamiken einer Borderline-Beziehung zu erklären, auf rationaler, sowie auf emotionaler Ebene. Aufgrund eigener Erfahrungen sind Aufklärung und Verständnis sowohl für Betroffene, als auch deren Partner wichtig, um besser mit dieser komplexen Krankheit umgehen zu können. Die Autoren versuchen dies, mit einfachen Worten und bringen Klarheit, was sich hinter den gängigen Fachbegriffen verbirgt. Sie räumen dabei auch mit dem einen oder anderem Klischee auf.

Das Buch ist in vier Teile gegliedert.

Teil 1 umfasst die bekannten Hauptsymptome der Borderline- Persönlichkeitsstörung und die psychodynamischen Abwehrmechanismen, die zusammen genommen die Abläufe, wie sie in der Geschichte in Teil 2 des Buches ablaufen, erklären. Diese sind schon länger bekannt und wurden nach entsprechender Diagnose Ed Hellmeiers aus eigener Erfahrung, Recherche und nach intensivem Diskurs mit Therapeuten und anderen Borderlinern hier zusammengefasst, ohne allzu sehr nach akademischer Terminologie zu greifen.

InTeil 2  wird der Verlauf einer Borderline-Beziehung von Anfang bis Ende behandelt. In den beschriebenen Situationen der Beziehung zeigt die Autorin die Gefühle und Erwartungen der beiden Partner und erklärt welche Mechanismen bei ihnen wirken.
Die Geschichte beruht auf den Erfahrungen vieler Betroffenen und Angehörigen und schildert keine tatsächlichen Personen, jedoch sind die beschriebenen Emotionen und Situationen authentisch, da mehrere Borderliner und Angehörige am Buch mitgewirkt haben, indem sie ihre realen Emotionen und Geschichten zum Ausdruck gebracht haben.
Die Geschichte hätte auch von einem männlichen Borderliner handeln können, da sich die Symptome nur minimal zwischen den Geschlechtern unterscheiden. Es geht dabei immer um dieselben Ängste und ähnlich irrationale Verhaltensweisen.

In Teil 3 werden häufig gestellte Fragen rund um das Thema Borderline, Beziehung und wiederkehrende Erlebnisse beantwortet.  Ebenfalls in intensiver Zusammenarbeit mit Borderlinern, Angehörigen von Borderlinern und Therapeuten hat Suzi Pavic Erfahrungen gesammelt, die sie hier zusammenfassen konnte.

Teil 4: Einblicke in die Gefühlswelt einer Borderlinerin – Eine andere Sichtweise 

Menschen, die in eine Borderline-Beziehung  geraten, werden in deren Verlauf oft auf sich selbst zurückgeworfen.  Sie sind gezwungen so viele Dinge zu hinterfragen, wie noch nie zuvor in Ihrem Leben.
Dieses Buch versucht durch Aufklärung einen Weg aus Leid und Ohnmacht zu ebnen, die als Folge einer  Borderline-Beziehung häufig zu beobachten sind.

Es soll allerdings kein Ratgeber im Sinne „Wie reagiere ich dann und dann…?“ oder „Was mache ich wenn…?“ sein, sondern versucht ein grundlegendes Verständnis, über Definitionen hinausgehend zu schaffen und dadurch jedem die Möglichkeit zu geben, auf dieser Grundlage selbstverantwortlich zu handeln."
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Die folgende Geschichte, über Kevin und Anna, habe ich aufgrund vieler Erfahrungen und meiner Forschungsarbeit geschrieben, um verständlich zu machen was hinter dieser Beziehungsdynamik steckt. Namen und Situationen sind nicht real, jedoch sind die beschriebenen Emotionen und Situationen authentisch, da mehrere Borderliner und Angehörige am Buch mitgewirkt haben, indem sie ihre realen Emotionen und Geschichten zum Ausdruck gebracht haben. 

Ich habe versucht, Zustände zu beschreiben, wie sie einem in einer Borderline-Beziehung widerfahren können. Die Geschichte ist aus zwei Perspektiven geschrieben: Aus der Perspektive des Partners (Kevin), der ahnungslos in diese Welt hineingezogen wird und Anna (Borderlinerin), die sich ihrer Störung nicht bewusst ist.

Bemerkung: Die Geschichte über Kevin und Anna ist aufgrund vielen, mir bekannten Geschichten entstanden. Ich möchte aber  betonen dass nicht alle Borderliner sich schneiden und nicht alle Borderliner fremdgehen! In dieser Geschichte geht es grundsätzlich darum, die Mechanismen, die die Verhaltensweisen steuern aufzuzeigen.
Genauso möchte ich ausdrücklich erwähnen, dass nicht jede Borderline-Persönlichkeit unter allen Symptomen leidet.
Bei jedem Betroffenen können die Symptome unterschiedliche Ausprägungen annehmen!

Kevin – normale Schrift
Anna – kursiv
Erklärung – kursiv rot

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Es fing alles vor einem Jahr an. Ich lernte Anna auf einer Feier kennen und noch am selben Abend kamen wir zusammen. Sie faszinierte mich, schlug mich mit ihrer Ausstrahlung und ihrem Charisma in den Bann. Diese Anfangszeit war für mich wie der Himmel auf Erden. Ich glaubte, mit dieser Frau zu verschmelzen und eins mit ihr zu sein. Symbiotisch und absolut. Es übertraf in der Intensität alles, was ich bis dahin in meinem Leben gefühlt hatte. Eine irre Empfindung. Sie gab mir das Gefühl, der tollste Mann der Welt zu sein und ließ mich das in jeder Sekunde spüren.
Aber schon am Anfang  hatte ich  den leisen Verdacht,  dass sie manchmal  anders ist als Menschen, die ich kenne. Irgendwie gefiel mir das. Ich war einfach nur stolz, dass sie etwas ganz Besonderes ist, und darauf, dass diese besondere Frau sich für mich interessiert und mich liebt. Schon nach acht Wochen fingen wir an, eine gemeinsame Wohnung zu suchen. Und ich dachte mir auch nichts dabei, als sie mich nach sechs Wochen fragte, ob wir uns verloben wollen. Ich war überglücklich, dass mich diese tolle Frau heiraten wollte und so hingerissen von ihr, dass ich nicht lange überlegen musste. Natürlich habe ich ihren Antrag angenommen!

Ich lernte Kevin auf einer Feier kennen. Ich wollte eigentlich keine Beziehung mehr, da ich in der Vergangenheit kein Glück mit Männern hatte, weil sie mir viel Leid zugefügt hatten. Aber als ich ihn sah änderte sich dies binnen eines Augenblicks. Schon bei unseren ersten Sätzen war es passiert. Ich wusste instinktiv: Dieses Mal ist es der Richtige! Trotz der vielen hinter mir liegenden gescheiterten Beziehungen wusste ich auf einmal, dass es dieses Mal klappen würde. Es schlug einfach ein. Ich war rettungslos verliebt, ich begehrte ihn, ich wollte ihn ganz für mich. Ich wollte mit ihm jede Sekunde verbringen,  jede Stunde, jeden Tag, mein ganzes Leben! Es gab keinen Moment, in dem seine Anwesenheit nicht einfach angenehm und perfekt gewesen wäre. Keine Sekunde, in der ich seine Gegenwart nicht genossen hätte. Sein Geruch, sein Lächeln, seine Haut, sein Atem und seine Stimme. Er war so unglaublich perfekt. So bildschön auf allen Ebenen, ein Wesen von einem anderen Stern. Mich durchströmte ein reines Glücksgefühl, als er auf vorsichtiges Nachfragen erkennen ließ, dass auch er mit mir zusammen ziehen wollte. Ich war mir sicher, dass ich mit diesem Mann mein restliches Leben verbringen wollte. Und so habe ich ihn gefragt ob wir uns verloben wollen. Er sagte ja und ich war beseelt. Wir waren eins. Es war so perfekt. Ich denke, ich war in dem Moment die glücklichste Frau auf der Welt. Wir machten Pläne und suchten uns eine gemeinsame Wohnung. In meinem Leben gab es nur noch ihn! Er gab mir das Gefühl, in seinen Augen die schönste, die klügste und überhaupt die perfekte Frau für ihn zu sein. Ich verlor mich in den schwarzen Seen seiner riesigen, verliebten Augen. Ich schwor mir, dieses Bild nie zu zerstören und dieses Mal perfekt zu bleiben, für ihn, für uns. ____________________________________________________________ 

Die beiden lernen sich kennen. Sie idealisiert  ihn. Sie gibt ihm das Gefühl perfekt zu sein. Er kennt diese realitätsfremde Position einer Ikone nicht, aber wer ist schon ungern perfekt? Er idealisiert sie, denn jemand, der diese Gefühle in ihm auslöst, muss perfekt sein.
Anna idealisiert  Kevin. Sie ist überschwemmt von Emotionen, die eine Richtung bekommen haben. Anna hat ein unstillbares Bedürfnis nach Zuwendung, Wahrnehmung, Nähe, Sicherheit und Liebe. Anna ist auf der Suche nach einer  Identität, denn sie besitzt kein „Ich“, kein Selbstbild, kein Imago .Ihr Bedürfnis nach Identität ist so groß, dass sie sich Kevin mühelos anpassen kann, indem sie ihm genau das zurück spiegelt, wonach er sich sehnt. Anna ist abhängig von Kevins Spiegelung. Und solange er ihr das perfekte Bild zurück spiegelt, idealisiert sie ihn.

Kevin ist von dem, was Anna ausstrahlt fasziniert. Der Charme einer Borderline-Persönlichkeit kann reizend sein. Annas empathische Wahrnehmung (die nur in der Idealisierungsphase möglich ist!) gibt Kevin das Gefühl der Einheit, Seelenverwandtschaft und Nähe. Seine emotionale Reaktion ist überwältigend. Denn so etwas hat Kevin noch nicht erlebt. Er nimmt es wahr als „Ende der Suche“, „Liebe seines Lebens“.

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Als wir schließlich eine passende Wohnung fanden, freuten wir uns sehr. Ich hatte meine alte Wohnung gekündigt ohne lang überlegen zu müssen. Aber als ich sie fragte, ob sie ihre Wohnung schon gekündigt habe, wechselte sie sofort das Thema und sagte irgendwas über ihre letzte Beziehung und über ihre Angst, dass das alles so schnell gehe. Es war für mich wie ein Schlag ins Gesicht. Weil ich Verständnis für sie aufbringen konnte, gestand ich ihr zu, ihre Wohnung zu behalten. Schließlich hatte sie bis jetzt kein Glück mit Männern. So hatte auch ihr letzter Freund sie betrogen und aus der Wohnung geworfen, ganz zu schweigen von dem, was andere Männer ihr angetan hatten. So habe ich versucht, damit zurecht zu kommen, dass sie eben etwas mehr Sicherheiten brauchte als ich und habe es aus meinem Bewusstsein verdrängt. Sie würde im Laufe der Zeit schon merken, dass sie mir vertrauen kann. Und, dass es anders sein wird, als mit ihren bisherigen Männern.

Es machte richtig Spaß verschiedene Wohnungen anzuschauen. Es war wie im Film. Wir zwei Verliebten suchten ein passendes Nest. Wir entwarfen in unseren Gedanken und Worten unsere gemeinsame Zukunft, schmückten sie mit unseren Träumen und stellten fest, dass wir die gleichen Träume hatten. Meinungsverschiedenheiten konnten wir uns noch nicht einmal vorstellen. Wir entschieden uns für eine schöne Wohnung und erhielten auch sofort die Zusage.
Es durchzog allerdings ein flaues Gefühl meine Magengrube, als er mir mitteilte, dass er seine Wohnung gekündigt habe, ein ganz komisches Gefühl. Auf einmal wollte ich meine Wohnung nicht mehr kündigen, denn wer weiß ob die Beziehung Bestand haben würde? Angenommen es gäbe einen Streit, was sollte ich tun, wohin sollte ich mich zurückziehen? Auf einmal sah ich ihn aus anderen Augen. Wollte er mich aus meinem Leben wegreißen, mir meine Zuflucht nehmen? War es richtig, mit ihm gemeinsam diese Wohnung zu beziehen? Es war ein unbeschreibliches Chaos in meinem Kopf.  Als er dann noch anfing zu fragen, warum ich meine Wohnung noch nicht gekündigt hätte, fühlte ich mich eingeengt. Wollte er mich zu seinem Eigentum machen? Ich fühlte mich schlecht, ich fühlte mich leicht schuldig, weil ich meine eigene Wohnung nicht gekündigt hatte. Denn irgendwo hatte ich das ja auch versprochen, indem ich mich auf eine gemeinsame Wohnung eingelassen hatte und zwei Wohnungen konnte ich nicht bezahlen. Ich hatte Angst vor der Endgültigkeit. Ich rechtfertigte mich, indem ich ihm etwas aus meinen bisherigen Beziehungen erzählte. Denn das war teilweise ganz entsetzlich gewesen. Und dafür musste er doch einfach Verständnis haben, jedenfalls wenn er der richtige Mann für mich war. Ich wusste gar nichts mehr, es wurde eng. Ich hatte das Gefühl, zu ersticken. Ich verstand nicht, was los war. Ich wusste nur: Ich muss ganz schnell weg. Zum Glück meldete sich mein Ex bei mir. Mit ihm ging ich abends essen. Es war eine kleine Erleichterung für mich, denn ich hatte das Gefühl, dass Kevin mich vereinnahmen wollte. Es fühlte sich so an, als ob ich dadurch mich und mein Leben verlieren würde.

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Ihr wird in einem klaren Moment bewusst, dass sie ihn eigentlich noch nicht kennt und nicht weiß, wie es mit ihm werden wird. Sie versteht nicht, dass die Angst, die sie hat, zu einem Teil darauf beruht, dass sie sich bisher nur auf einer illusionären Ebene der Verliebtheit begegnet sind. Die Realität und der Mensch, mit seiner ganzen Persönlichkeit, hatten bisher noch gar keine Chance sich zu offenbaren. So hegt sie Zweifel, verfällt der Ambivalenz und berechtigten Unsicherheiten. Ihre Angst vor dem „verschlungen werden“ taucht auf, obwohl sie selbst die Situation maßgeblich herbeigeführt hat.
Planen, träumen, sich alles schön auszumalen, hat Anna Spaß gemacht. Freude auf etwas Neues hat Ihre Sehnsüchte geweckt. Als sich nun die Realität dessen zeigt, hat sie Angst vor der Entscheidung, Angst verschlungen zu werden, Angst vor der Endgültigkeit.  Diese Ängste kann sie nicht verbalisieren, und erzählt Kevin nur, über ihre schlimmen Erfahrungen mit anderen Männern. Sie fühlt sich in seiner Realität eingesperrt, hat Angst „den Ausgang“ nicht mehr zu finden und zu ersticken
Erleichterung kann eintreten, als sie sich der Beziehung entwindet und ihren Ex sieht. Denn da ist sie ganz weit von ihrer jetzigen Beziehung entfernt. Wie in einem Paralleluniversum. Sie flüchtet aus Kevins Realität, die ihr im Moment der Entscheidung große Angst macht und eng wird.

Annas Reaktion schockt Kevin zuerst. Aber er relativiert diese Situation, indem er Rücksicht auf sie nimmt. Denn „sie hatte kein Glück bis jetzt, und es ist ok, es langsamer anzugehen“. Er versucht, Verständnis für Anna aufzubringen und hofft, dass sie schon merken wird, dass sie ihm vertrauen kann.

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Den Mietvertrag unterschrieb ich alleine. Eigentlich hätte sie dabei sein sollen, aber sie sagte nur eine halbe Stunde vor dem Termin per SMS ab: „Sorry Schatz! Kann nicht kommen, habe Bauchschmerzen und liege im Bett.“ Ein paar Tage später kam sie in meine alte Wohnung und fing an zu weinen. Als ich sie fragte, was los sei sagte sie, sie habe Stress mit ihrer Mutter und alles gehe ihr auf die Nerven. Ich versuchte, sie in den Arm zu nehmen, doch sie drehte sich um und rannte aus der Wohnung. Weg war sie! Tagelang versuchte ich, sie zu erreichen. Ich telefonierte ihr hinterher, doch das Handy war entweder aus, oder sie ging nicht ran. Ich stand sogar bei ihr vor der Tür, doch es war keiner da. Mein Herz war voller Sorge. Je länger es dauerte, desto verzweifelter wurde ich. Ich war nicht fähig, zu arbeiten, konnte nicht schlafen, machte mir permanent Gedanken darüber, ob ihr etwas passiert war. Ob ich ihr etwas angetan hatte, wieso sie den Kontakt einfach so abgebrochen hatte. Verstehen konnte ich es nicht. Es war doch alles so schön. Ich hatte das Gefühl, als habe mir jemand plötzlich und ohne Vorwarnung den Boden unter den Füßen weggerissen.

An dem Tag, als wir den Termin beim Vermieter zur Unterschrift des neuen Mietvertrages hatten, ergriff mich ein merkwürdiges Gefühl. Ich fühlte mich abgetrennt von der Welt. Ich war kein Bestandteil von ihr. Selbst Kevin kam mir sehr fremd vor. Zu meinen eigenen Gefühlen hatte ich gar keinen Kontakt. Ich fühlte mich wie ein isolierter Zuschauer der Geschehnisse. Ob das wohl alles richtig war? Ob es wohl richtig war, diesen Mietvertrag zu unterschreiben und mit Kevin zusammen zu ziehen? Ich fühlte nicht, konnte nicht werten, nicht entscheiden. Es kam mir alles chaotisch vor, irgendwie konfus, ohne Fixpunkte. Ich wusste noch nicht einmal, ob ich noch etwas für ihn empfand. Aber das konnte ja nicht sein.
Davon wollte ich Kevin aber nichts sagen. Ich wollte ihm nicht über meine Unsicherheiten berichten, ihm nicht wehtun mit meinen Zweifeln. Es war mir recht, dass mein Ex sich an diesem Abend spontan mit mir treffen wollte, weshalb ich ihm zusagte. Die Ablenkung würde mir gut tun. Ich würde ein bisschen Luft bekommen. Das konnte ich aber Kevin nicht erklären. Ich war so gefangen in meinem innerlichen Chaos und total überfordert mit der Situation. Also log ich, schrieb ihm per SMS, ich sei krank und läge im Bett.
Zwei Tage nachdem er den Vertrag unterschrieben hatte fuhr ich zu ihm nach Hause. Er war am Packen. Und als ich das sah, breitete sich in meinem Bauch das altvertraute Gefühl der Beklemmung aus, ergriff Besitz von mir. Was will ich überhaupt? Ich fühlte mich ihm fremd, trotz seiner Nähe. Das schlechte Gewissen wegen des Treffens mit dem Ex plagte mich. Obwohl ich nichts Anzügliches mit ihm getan hatte, hasste ich mich für meine Unehrlichkeit und versuchte, mir die Scham nicht ansehen zu lassen. Kevins Blick war so unendlich lieb und ich hasste das, ich hasste die Situation, ich hasste mich. Und auch ihn. Ein Bedürfnis zur Flucht machte sich in mir breit. Ich fühlte überdeutlich, dass ich weg musste, raus, irgendwie weg, ohne Ziel. Völlig überfordert von der Situation fing ich an zu heulen und lief weg. Ich musste alleine sein. Das Wirrwarr in meinem Kopf und der Druck waren nicht auszuhalten. Ich spürte nur Chaos, konnte nicht mehr aufdröseln nach Richtig und Falsch, fühlte mich wie gelähmt. Als ich nach Hause kam nahm ich eine Rasierklinge und schnitt mich. Das mache ich immer wenn ich mich in einer Situation befinde, die ich nicht aushalte. Ich hasste mich dafür, so widerwärtig, so abstoßend. Und die Welt hasse ich dafür auch. Ständig klingelte das  Telefon. Er versuchte mich zu erreichen. Ich wusste, ich bin schlecht für die Menschen um mich herum, ich schade ihnen. So aufgelöst wie ich war, konnte ich unmöglich ans Handy gehen. Außerdem hasste ich ihn auch, denn er hatte etwas, ich konnte nicht benennen was, zu dieser Situation beigetragen. Die Schuld für all den Hass in mir setzte sich wie ein Alb auf meinen Brustkorb. Plötzlich klingelte es an meiner Tür. Ich machte alle Lichter aus und wünschte ihn mir ganz weit weg, wünschte ihm den Hass für mich, den ich für ihn empfand. Ich wollte niemanden sehen. Jedenfalls wollte ich mich ihm nicht so aussetzen, so verwundbar, so abstoßend hasserfüllt und schwach zeigen. Die Angst vor der Einsamkeit war schließlich stärker, weshalb ich schließlich meinen Ex anrief und ihn bat vorbei zu kommen. Er kennt mich und er ist keine Gefahr mehr. Keine Emotion ist mit ihm verbunden. Er ist nur eine ferne Erinnerung. Er kam vorbei. Und um endlich etwas klar Definiertes zu spüren, um den verdammten Druck abzubauen, schlief ich mit ihm. Da war kein Gefühl, ganz zu schweigen von Leidenschaft. Da war nur Schmerz. Und ich fühlte mich unsäglich schmutzig, eine verachtenswerte Existenz.
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Sie ist sich ihrer Entscheidung, die, wie vorstehend bereits ausgeführt, eher auf Illusionen beruht, nicht sicher. Zurück kann sie aber auch nicht, denn vertragliche Verpflichtungen sind so gut wie unausweichlich, wenn sie ihrem Unwohlsein keine Worte verleiht. Dies kann sie aber nicht, da sie will Kevin nicht verletzen. Sie kann ihn nicht konfrontieren mit all den widersprüchlichen, zweifelnden Gefühlen, die in ihr ein Chaos veranstalten, denn instinktiv weiß sie, dass dies wenig mit ihm und sehr viel mit ihr selbst zu tun hat. Sie fürchtet den Liebesentzug als schreckliche Konsequenz der Ehrlichkeit.
Für die widerstreitenden Gefühle hat sie keinen Verarbeitungsmechanismus. Sie sind zu heftig. Das führt zu einem Gefühl des absoluten Chaos, in welchem sie nicht mehr fähig ist, sich selbst differenziert wahrzunehmen. Das Schneiden soll ihr einen Bezug zur der Realität und sich selbst  zurückbringen, der sie allmählich entgleitet.
Das Schneiden ist in Ihren Augen abartig und dafür hasst sie sich. Lediglich weil Kevin dabei war, wird er nun auch zum Bestandteil der Situation, die im Grunde nur mit ihr selbst zu tun hat. Sie muss ihn hassen, da vorher  die Situation gut war. Das alles ist zu viel für sie, weshalb sie die Situation und auch Kevin abwertet, um wieder Grund unter den Füßen zu bekommen.
Der Sex ist nichts anders als das Schneiden. Sie hatte ihn nicht geplant. Sie wollte nur Gesellschaft, um nicht völlig alleine im Schmerz dahin zu driften. Ihren Ex konnte sie nur deshalb kontaktieren, weil er ihr nichts mehr bedeutet. Und letztlich konnte sie auch nur mit ihm schlafen, weil er so fern war und dennoch nicht gänzlich unvertraut. Sie hat ihn missbraucht, um ihren Schmerz zu stillen.
Kevin sind solche Verhaltensweisen nicht bekannt. Und es ist für ihn ein großer Schock, als  Anna sich (für ihn ohne sichtbaren Grund) zurückzieht. Er kann es nicht einordnen und hat das Gefühl, jemand entzieht ihm den Boden unter den Füssen. Er ist auf Anna fixiert, denn so eine starke Bindung hat er noch nie erlebt. Doch durch Annas Rückzug ist seine Wahrnehmung nicht mehr intakt. In seinem Kopf dreht sich alles um Anna. Schon in der Idealisierungsphase ist er nach diesen überdimensionalen Emotionen süchtig geworden. Diese Emotionen sind ihm mit Annas Rückzug schlagartig „entzogen“ worden und deshalb „spielen“ sein Körper und seine Psyche völlig verrückt.
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Am vierten Tag kam eine SMS von ihr: „“Hallo Schatz, mir geht’s wieder besser. Ich will gerne mit Dir reden. Darf ich zu Dir kommen?“ Ich war so erleichtert, dass sie sich meldete und freute mich sehr, als sie vor der Tür meiner alten Wohnung stand. Als ich sie in die Arme schließen wollte, bemerkte ich wie traurig ihre Augen aussahen. Bevor ich nachfragen konnte, schnappte sie mich, küsste mich leidenschaftlich. Sie war so wunderschön. Meine große Liebe. Ich war hin und weg von ihr. Liebestrunken taumelten wir in Richtung des Bettes und hatten den besten Sex, den man sich überhaupt vorstellen kann. Wir waren wieder eins. Die Tage davor waren wie weggewischt. Wir lagen im Bett und ich hielt sie in meinen Armen. Auf einmal fing sie an zu weinen und schwor, mir nie mehr wegzugehen und sie sagte, dass sie mich über alles liebe. Diesen Moment werde ich nie vergessen. Wir waren uns unglaublich nah. Alles war so intensiv und leidenschaftlich. Am Morgen danach zog sie sich schnell an und sagte, sie müsse noch anlässlich ihrer Arbeit (sie arbeitete halbtags in einer kleinen Firma) etwas erledigen und komme am Abend wieder.
Vom endgültigen Auszug aus meiner Wohnung trennten mich noch zwei Wochen. Ich war trotz des Zwischenfalls ruhig und gut gelaunt. Das neue Leben konnte von mir aus gleich anfangen! Das einzige, was ich ein wenig merkwürdig fand, war der Umstand, dass sie sich nie ganz ausziehen wollte. Ich dachte mir nichts groß dabei. Vielleicht war sie einfach nur schüchtern. Da ich sie nicht brüskieren wollte und auch davon ausging, dass sich das irgendwann geben würde, sprach ich das Thema nicht an.
 

Nachdem ich mich bisschen beruhigt hatte, war mein Kopf wieder voller Gedanken an Kevin. Mein Gewissen meldete sich aufdringlich laut. Ich schämte mich so für das, was ich getan hatte. Er tat mir leid. Ich wollte zu ihm. Er fehlte mir, vielleicht liebte ich ihn ja doch. Ich wollte ihn unbedingt sehen, um mich zu entschuldigen. Für mich war unklar, für was genau ich mich entschuldigen sollte. Wie ich es formulieren sollte, was ich ihm überhaupt erzählen sollte. Sollte ich ihm alles erzählen? Aber könnte er mir das verzeihen? Die Angst wuchs in mir, sie packte mich und ließ mich nicht mehr los. Ich wollte ihn nicht verlieren. Hatte er mich bereits vergessen? Will er überhaupt noch etwas von mir? Wie soll ich mich melden? Was soll ich sagen? Am vierten Tag versuchte er nicht mehr, mich zu erreichen, was mich beunruhigte. Ich sehnte mich nach ihm und hasste ihn gleichzeitig. Vor allem trieb mich die nagende Frage: Hat er mich verlassen? Ich sammelte alle Kraft, die ich hatte. Und trotz meiner Angst vor einer abweisenden Antwort, schickte ich ihm eine SMS. Ich zitterte am ganzen Körper und wartete angespannt auf die Antwort. Sieben Minuten benötigte er, um zurück zu schreiben. Eine Ewigkeit für mich. Voller Angst, in einer Hölle möglicher Zurückweisungen. Mir brach der Schweiß aus, als mein Handy piepste. Ich benötigte ein paar Minuten, um mich so weit zusammen zu reißen, dass ich mich traute, die SMS zu lesen. Als ich seine Worte las, durchströmte mich Glück wie Zweifel gleichermaßen: „Bin zu Hause. Komm vorbei, freu’ mich“. Im ersten Moment war ich erleichtert. Doch dann wiederum lasen sich seine Worte kühl und distanziert. Hatte er etwas gemerkt? Sollte ich ihn tatsächlich besuchen gehen? Wie würde er mir gegenüber treten? Ich hasste ihn, hasste mich. Besser wäre es doch gewesen, ich hätte mich nie mehr gemeldet. Ich hatte wahrscheinlich einen überdimensional großen Fehler gemacht, als ich ihn angeschrieben hatte. Ich sollte besser nicht hingehen. Oder doch? „Bin zu Hause. Komm vorbei, freu’ mich“. Wie kalt, wie herzlos. Machte er sich keine Gedanken um mich und darüber, wie es mir ging? Die SMS endete schon fast grußlos. Früher hatte er immer liebevoll „Kuss“ am Ende einer Nachricht angehängt. Was war in seiner Welt passiert, dass ich das jetzt nicht mehr wert war? Was wusste er? Oder hatte er schon eine andere? War ich ihm jetzt schon gleichgültig? Aus den Augen, aus dem Sinn?
Schließlich entschied ich mich, zu ihm zu fahren. Um ein wenig ruhiger zu werden, trank ich eine halbe Flasche Wein und redete mir selbst gut zu. Nur Mut! Auf dem Weg zu ihm potenzierte sich das Chaos in meinem Kopf noch. Alle möglichen Horrorszenarien spielten sich vor meinem inneren Auge ab. Neue und alte, immer und immer wieder. Als ich vor der Tür stand, zögerte ich. Sollte ich, oder doch lieber nicht? Ich klingelte dann doch. Und als ich ihn vor mir stehen sah, sah ich ein trauriges Glänzen in seinen Augen, etwas, was in mir das Bedürfnis weckte, diese Traurigkeit weg zu küssen, zu heilen. Der innere Druck ließ nach, aber ganz war die Angespanntheit nicht verschwunden. Ich schnappte ihn mir und wir hatten wilden Sex. Druck und Anspannung fielen ab von mir und hinterließen mich lebendig und jung. Es war unglaublich schön und intensiv. Meine Haut erwiderte jede seiner Berührungen. Ich wurde willenlos, ich war seins, wir waren eins. Ich hatte nur zwischendurch Angst, er könnte meine Narben sehen. Es war so nah, dass ich weinen musste. Ich fühlte mich sicher und geborgen in seinen Armen. Nachdem er eingeschlafen war, blieb ich noch lange wach und blickte ins Dunkel der Nacht. Mein Atem ging gleichmäßig. Er sollte nicht mitbekommen, dass ich noch nachdachte. Denn mit ihm reden wollte ich nicht. In meinem Kopf nahm das Chaos wieder Formen an. Die Bilder der letzten Tage huschten durch meine Gedanken. Diese hässliche Stimme meines Gewissens meldete sich wieder, ich fühlte mich schuldig. Und auch beschmutzt von dem, was ich getan hatte. Ich konnte nicht nachvollziehen, weshalb er so lieb zu mir war, denn ich war doch böse. Niemand konnte mich lieben, jedenfalls keiner, der alles über mich wusste. Soviel stand schon einmal fest. Diese Liebe konnte nur das Produkt eines Irrtums sein. Wie Schuppen fiel es mir von den Augen und ich erkannte den Unwert meines Seins. Und ich ekelte mich vor mir selbst. Ich wollte weg, einfach nur weg, und dennoch blieb ich dort, wach und auf den Dornen meiner Gedanken gebettet. Morgens hielt mich dann nichts mehr. Ich musste nach Hause, allein sein und schlafen. Ich erklärte ihm, ich müsse in die Firma und verschwand. Rief den Chef an und nahm mir den Tag frei. Ich musste nach Hause. Das Verlangen nach Schlaf war einfach übermächtig.
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Sie wendet sich ihm erst dann zu, als ihr klar wird, dass sie ihn verlieren könnte. Die Angst, durch das geplante gemeinsame Leben verschlungen zu werden, wird abgelöst von der Angst, ihn zu verlieren. Anlass gibt es dafür wenig. Doch die drei Tage, die er ihr hinterher telefoniert hat, kann sie nicht als Beachtung wahrnehmen. Seine Schreie nach ihr verhallen ungehört. Sie hat kein Sensorium dafür, geliebt zu werden. Kein Gespür dafür, dass sich jemand Sorgen um sie macht. Sie kann es nicht wahrnehmen.
Sie fühlt sich schuldig, kann ihm aber keinen reinen Wein einschenken, da ihre Verlustangst dies verbietet. Sie kann ihm noch nicht einmal ihre Bedürfnisse oder ihre Ängste erklären, da sie diese selbst nicht versteht. Deshalb kann sie nicht reden, denn sie müsste zu viel verschweigen, als dass er sie verstehen könnte. Zu ihm zu gehen ist das Maximum des Machbaren. Es birgt bereits genug Konfrontationspotential. Reden wäre zuviel des Risikos. Ihren Fehltritt muss sie verschweigen. Und auch ihre schlechten Seiten, denn dieses Mal, das hatte sie sich geschworen, perfekt zu bleiben.
Liebe und Hass sind die zwei Seiten der Medaille. Es gibt keine Liebe ohne Hass. Es gibt kein Glück ohne Schmerz. Es gibt niemals Schönheit ohne den Schrecken der Hässlichkeit. Denn tief eingebrannt ist das Wissen, dass es niemals Glück ohne ein abruptes Ende des Glücks geben wird. Dies vorwegzunehmen ist Teil der gespaltenen Gefühlswelt. Im Jetzt muss sie bereits abwerten, damit der Schmerz nachher nicht unmenschlich groß wird.
Sex ist hier wieder das Mittel zum Druckabbau. Aber es ist mehr: Es ist ein Vermeiden echter Nähe, ein Vermeiden der Kommunikation und des Erkennens.

Kevin ist wieder überglücklich als Anna sich meldet und blendet alles Negative aus. Seine Psyche schreit nach dieser „Droge“, die die Emotionen sind, die Anna in ihm ausgelöst hat. Und so ist er wieder überdimensional glücklich als Anna in seiner Nähe ist.

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© Suzana Pavic